SPD: Erneuerung im Pragmatismus oder durch Rückkehr zu den Grundwerten?

Konkrete Anforderungen an die Erneuerung der Parteiorganisation

1. Der historische Standort der SPD und die drei Phasen der Kritik an der Parteiendemokratie

Die SPD im frühen zwanzigsten Jahrhundert kann beschrieben werden als Institution zur Vertretung der spezifischen Klasseninteressen im Rahmen der repräsentativen Demokratie. Selbstverständlich stieß die real vorhandene Institution der Partei und ihrer konkreten Ausprägung von Anfang an auf Kritik.

Robert Michel, ein Vertreter der „Elitentheorie“ (mit sozialdemokratischer Prägung) - stellte fest, dass in demokratischen Parteien größere Meinungsverschiedenheiten bestehen, und zwar zunehmend weniger bezüglich allgemeiner Grundsätze oder als Diskurs zu politischen Inhalten, sondern viel mehr aufgrund persönlicher Streitigkeiten. Auch heutzutage werden sichtbare inhaltliche Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Parteien häufig als Querelen oder Introspektion charakterisiert.

Als Gegenbegriff zum Parteienwesen hat sich früh der Begriff der Bewegung etabliert, der aber nur eine scheinbare Lösung für die Probleme der Parteiendemokratie bietet. Nicht zufällig knüpfte der Faschismus (missbräuchlich) an legitimer Unzufriedenheit für diese Art der Parteifunktion an und stilisierte sich als eine Bewegung, die die Massen in ihrem Kampf gegen die „Eliten“ vertritt1. Dies kann als die erste Phase angesehen werden, in der die Rolle der Parteien in der Gesellschaft existentiell in Frage gestellt wurde. Die zweite Phase bricht nach den 1970er Jahren an. Damals begannen einige linksradikale Gruppierungen, die von ihrer Opposition gegen die liberale Demokratie selbst und nicht von deren Dysfunktionen inspiriert waren, sich als Bewegungen zu identifizieren. Giorgio Agamben argumentiert, dass „der Ursprungsgedanke des Konzepts der Bewegung darin besteht, dass er den Begriff des Volkes entpolitisiert“.

Eine derartige Kritik an der Parteiendemokratie ist allerdings abwegig. Der Begriff Bewegung übersteigert den Volksbegriff und entpolitisiert die Begriffe von „Klassengesellschaft“ und „Reform“, indem beide einfach für belanglos erklärt werden. In der Realität repräsentieren die Parteien häufig konkrete ökonomische und persönliche Interessen („Klasseninteresse“) im Rahmen der repräsentativen Demokratie, die „Bewegungen" repräsentieren die „Massen“, wobei Volkswillen und Herrschaftswille angeblich zusammenfallen. Die Einheit von Volk und Führung wird gelegentlich durch scheinpartizipatorische „Referenden von oben“ bestätigt. So ist der Weg zum Populismus und Nationalismus geebnet.

Die dritte Phase der Kritik an der Parteiendemokratie erfolgt nach 1990 und hat ein neo-liberales Gesicht. Unter dem Begriff „Globalisierung“ werden zwar wichtige liberale Werte wie Beratung, Dezentralisierung, Ausbildung, multikulturelle Identität, internationaler Datenaustausch und Vernetzung gefasst, aber es ist auch gleichzeitig von einem überbordenden Staat die Rede und die Relevanz der Parteien und ihrer Organe wird bestritten - demokratisch gewählte Gremien werden ebenso wie inhaltliche Auseinandersetzungen für obsolet erklärt.

Statt Parteien gelten nun wieder NGOs als bevorzugte Organisationen. Damit kehrt man zu Lorentz von Stein zurück, der um 1850 die Bewegung als politische und soziale Form identifizierte, die sich gegen den Staat stellte. Zugleich werden NGOs heute – wie oben dargelegt – als Alternative zur Parteiendemokratie verstanden und oft wenden sich deren Verfechter auch gegen demokratische Prozesse an sich. Es ist daher überhaupt nicht paradox, dass es liberale Politiker gibt, die nicht unbedingt Demokraten sind (Trump).

Die europäischen sozialdemokratischen Parteien standen dagegen stets immer für eine politische Struktur, in der die Parteien als repräsentative politische Medien den Bürgerwillen darstellen und nicht die Bewegungen. Sozialdemokraten sind keine Linksradikale oder rechte Neoliberale, sie sind für die Reformen und graduellen Veränderungen in der Gesellschaft und nicht für die Revolution.

2. Die SPD als Partei der Aufopferung für das deutsche Gesamtwohl

Die SPD ist wie so oft in der Vergangenheit in ein Dilemma geraten. Öffentlich wird gefordert: „Erst das Land, dann die Partei“. Damit wird impliziert, die SPD müsse sich aus Verantwortung heraus an einer großen Koalition beteiligen. Wie ist dies einzuordnen?

Die SPD-Geschichte ist voll von Beispielen der Aufopferung und der politischen Verantwortung. Es ist die Partei, deren langjähriger preußischer Ministerpräsident Otto Braun seine Genossen aufforderte, sich an der „großen Koalition von vernünftigen Menschen“ zu beteiligen. Nicht umsonst hat Thomas Mann in seiner berühmten „Rede an die Deutschen“ (1930) das deutsche Bürgertum und die Parteien der bürgerlichen Rechten sowie das Zentrum aufgefordert, mit der SPD eine Allianz einzugehen, wenn sie die Zerstörung Deutschlands und ihre eigene vermeiden wollten.

Es ist die Partei, deren Reichstagsabgeordneter Kurt Schumacher, ein Kriegsfreiwilliger und -invalide, 1932 die deutschen Politiker warnte, dass, wenn sie sich nicht an der letzten (instabilen) Koalition der Weimarer Republik unter Kanzler Braun beteiligen, dann wäre dies „die Mobilisierung der menschlichen Dummheit“ – man würde Republikfeinden aus NSDAP und KPD also die Oberhand geben.

Letztendlich nutzten die Republikfeinde das Hin und Her der bürgerlichen Parteien aus. Die SPD blieb der Linie der großen Koalition treu, auch wenn sie in wichtigen Fragen wie dem Auslaufen der progressiven Besteuerung nicht übereinstimmte. Nicht nur das: Sie entschied bei der Reichspräsidentenwahl 1932, keinen eigenen Kandidaten aufzustellen und den konservativen General Hindenburg zu unterstützen, um letzlich die Wahl Hitlers als Reichspräsident zu blockieren.

Schließlich war es die Partei, die wesentlich zum berühmten Wunder an Demokratie und Wirtschaftsaufschwung der (west-)deutschen Nachkriegszeit beitrug. Seit 2005 hat sie zudem zwei mal eine große Koalition mit den Unionsparteien gebildet.

3. Der heutige Standort der SPD zwischen Aufopferung und Selbsterhalt als Partei

Dreierlei scheinen die permanenten Merkmale der deutschen Sozialdemokratie trotz ihrer ständigen Veränderungen zu sein:

  1. Die Priorität des deutschen öffentlichen Interesses,
  2. die Kombination dieses Interesses mit der Verteidigung eines vereinigten Europas und
  3. ihr demokratischer Geist.

Sind heute die Voraussetzungen vorhanden, um sich ohne dauerhaften Verlust an Selbstachtung nochmals an einer großen Koalition zu beteiligen? Was sind zwingende Erfordernisse aufgrund der Eigenschaften, die die Partei auszeichnen?

Die Frage steht in Verbindung sowohl mit dem konkretem Inhalt der Koalitionsverhandlungen und deren Bewertung im Vergleich zum Wahl- und Parteiprogramm (mit deutlich abweichenden Ergebnissen) wie auch mit dem Bedarf zur Erneuerung der Partei, der überlebenswichtig ist für den Erhalt des Status der SPD als Volkspartei.

Die vorherige Legislaturperiode hat gezeigt, dass die SPD in der Großen Koalition stark an Vertrauen und Profil einbüßte. Ob gerecht oder nicht, als Juniorpartner konnte die SPD die Menschen nie davon überzeugen, dass sie die treibende Kraft für deutschen Wohlstand und Zusammenhalt ist und dass sie das Land gerechter machen kann. Der Vertrauensverlust konnte in einem Wahlkampf nicht wettgemacht werden.

Bei den letzten drei Bundestagswahlen hat die SPD die drei schlechtesten Ergebnisse seit 1949 eingefahren. Der Vertrauensverlust ist enorm. Von über 20 Millionen Wählern im Jahr 1998 sind 2013 noch gut 11 Millionen und 2017 nur noch 9,5 Millionen übriggeblieben. Nur etwa jede/r siebte aller Wahlberechtigte hat die SPD dieses mal noch gewählt. Von 2000 bis Ende 2016 hat die SPD über 300.000 Mitglieder verloren. Das kurze Aufflackern von neuen Parteieintritten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich sehr viele Menschen von der SPD abgewandt haben.

Sozialdemokratie bedeutet eine politische Ideologie, die sich für die Verbesserung der Lebensqualität der Bürger in der Gegenwart einsetzt und ständig auf Modernisierung und Reform verpflichtet - sowohl ihrer eigenen Organisation als auch der Gesellschaft. Sie hält nicht am Glanz der Vergangenheit fest und verspricht auch keine „blühenden Landschaften“ in der fernen Zukunft. Wenn sie dagegen nostalgisch an der Vergangenheit hängt, erleidet sie große Verluste sowohl am Image wie auch an Wählerstimmen.

Wer in Europa verfolgt, wie einige sozialdemokratische Parteien vollends untergingen, der weiß, dass man als deutsche SPD noch tiefer fallen kann als die 20.5% bei der Bundestagswahl 2017. Die Schwesterparteien in Frankreich und den Niederlanden haben beispielsweise bei den letzten Parlamentswahlen nur noch 7,4 bzw. 5,7 Prozent der Stimmen bekommen.

Glaubwürdig wird ein Neuanfang nur, wenn die SPD-Spitze Verantwortung für die herbe Niederlage übernimmt - auch personell. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisung an Einzelne. Aber es geht sehr wohl um personelle Verantwortung, vor allem derjenigen, die schon länger unseren Kurs an den Schalthebeln der Partei, der Regierung und der Fraktion maßgeblich mitbestimmt haben. Eine Erneuerung ist nur glaubwürdig, wenn nicht wieder die gleichen Leute, deren Strategie und Führung gescheitert ist, die wichtigen Positionen besetzen und die bisherigen Verfahrensweisen, wie die Partei organisiert wird, sich nicht verändern.

4. Konkrete Anforderungen an die Erneuerung der Parteiorganisation

Wir müssen endlich aufhören, alle Personalfragen in ganz engen Zirkeln zu besprechen und dann die Partei nur noch vor vollendendete Tatsachen zu stellen. Auch wenn die eigentliche finale Entscheidung dann in der Fraktion oder bei einem Parteitag getroffen wird, können sich die Mitglieder nur noch gegen die in Hinterzimmern abgesprochenen „Vorschläge“ stellen, wenn sie eine massive Schädigung der Parteispitze in Kauf nehmen. Aber genau dieses „von oben nach unten“ darf nicht mehr geschehen, wenn wir eine Erneuerung ernst nehmen wollen.

Die Basis vor Ort ist das Herz unserer Partei, sie muss mehr und deutlicher eingebunden werden. Die einfachen Mitglieder machen den Wahlkampf, halten den Kopf hin und haben den Bezug zu den Menschen vor Ort. Wichtige Entscheidungen dürfen nicht durch Parteikonvente beschlossen werden, wo hauptsächlich Mandatsträger und hohe Parteifunktionäre sitzen. Mitgliederbefragungen und auch die Einbeziehung von Sympathisanten und Bündnispartnern müssen erleichtert werden. Der Parteiapparat muss modernisiert, Zugänge und Mitbestimmung gerade auch online erleichtert werden.

Wir benötigen mehr inner- und außerparteiliche Transparenz. Und wir brauchen mehr Debatten und politische Auseinandersetzungen, mehr Lebendigkeit. Die SPD war dann am stärksten, als sie heftig um die Themen gerungen hat. Geschieht dies im offenen Prozess, dann wird sie am Ende geschlossener in die Auseinandersetzung mit der politischen Konkurrenz treten und mehr Wähler überzeugen als bisher.

5. Einfluss der Entscheidung zur großen Koalition

Die Erneuerung kann höchstwahrscheinlich nur erreicht werden, wenn die Partei in der Opposition bleibt und höchstens eine Minderheitsregierung von CDU-CSU toleriert. Eine GroKo-Beteiligung mit wenigen sozialdemokratischen Inhalten - egal welche und wie viele sozialdemokratische Minister gestellt werden - wird eine vernichtende Auswirkung auf die Partei haben.

Es geht jetzt um das Überleben der SPD. Aber gerade heute ist eine starke Sozialdemokratie für Deutschland und Europa wichtiger denn je.

Es müssen konkrete Maßnahmen unternommen werden damit dieser Prozess umkehrbar wird. Es wäre ein Unglück, wenn diejenige Partei weiter in den Abgrund steuert, die für Werte wie Frieden, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und andere humanistische Werte, aber auch für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft stets eingestanden ist.

Dr. Michael Kalavritinos
SPD Freundeskreis Zürich



1 Hannah Arendt, die nach dem Zusammenbruch des Faschismus den Totalitarismus analysierte, behauptet, dass er dort auftritt, wo die Bürger zu Massen werden, die Parteien in "Bewegungen" verwandelt werden und die Demokratie als Volkswille dargestellt wird".

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